50 Jahre Deutsche Märchenstraße
- Conny Heinz

- 17. Aug.
- 8 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 22. Sept.

Der Märchengeburtstag oder: Wenn die Märchen auf Klassenfahrt gehen
Rotkäppchen machte sich auf den Weg. Im Tierpark Sababurg feierte dieses Wochenende die Deutsche Märchenstraße ihren mittlerweile 50. Geburtstag. Bereits am Eingang vom Tierpark war Rotkäppchen überrascht: auf dem sehr großen Werbebanner war neben anderen Märchenfiguren auch Rotkäppchen zu sehen, wie sie den Wolf küsst. Dass sie den Wolf küsst, war nicht das Problem, denn schließlich war dieser aus Pappe. Aber schlagartig wurde ihr klar, dass dieses Bild von ihr wiederum auch im Tierpark gemacht wurde und zwar vor ziemlich genau 10 Jahren. Rotkäppchen musste zugeben, dass sie zu dieser Zeit noch sehr viel weniger Falten hatte und der Haaransatz durchgehend dunkler war. Auch das Kostüm war wohl über die Jahre nach dem häufigen waschen eingegangen... aber der Umhang, der rote Umhang mit der Kapuze, der passte nach wie vor!
"Vom Haupteingang bis zum Festplatz sind es nur 15 Minuten", stand in dem Schreiben, welches Rotkäppchen erhalten hatte. Mit Sicherheit sind es 15 Minuten, wenn man nichts an Gepäck dabei hat und eine gute Kondition hat. Auf Rotkäppchen traf beides nicht zu. Sie hatte nicht nur den Korb für die Großmutter dabei, sondern ihr Büchermobil, ein Bollerwagen, gefüllt mit Büchern, die sie selbst geschrieben hatte und noch verschiedene Materialien und Gegenstände, die sie für ihre Lesungen benötigte, einen Tisch, einen Stuhl und etwas Proviant. Rotkäppchen hatte nämlich einen Buchstand auf dem Festplatz und Lesungen auf der Bühne, über beides freute sie sich sehr.
In dem Moment, in dem man das Festgelände betrat, war es, als tauche man ein in eine andere Welt. Ist man eben noch den vernebelten Hügel im Tierpark hochgelaufen in aller Stille zwischen Wildtieren und uralten Eichenbäumen, so stand man plötzlich in einem scheinbar magischen Märchenwald im emsigen Treiben. Märchenhafte und sagenhafte Figuren gingen des Weges und grüßten freundlich, erzählten ihre Geschichte und ließen sich mit den Besuchern des Tierparks fotografieren. Mit großen Augen blickten die Kinder zu den Figuren hinauf und staunten darüber, dass es Märchen und Sagen also doch in der Realität gab.
Alle Märchen- und Sagenfiguren bekamen ein Zeichen, dass es nun Zeit wäre für die Begrüßung. Begleitet durch einen Trommler gingen Rotkäppchen und all die anderen auf die Bühne und stellten sich nach und nach vor, anmoderiert von einem Ritter. Eine Sagenfigur stellte sich mit einem Lied vor, welches mit drei Strophen doch recht lang für eine Kurzvorstellung ausfiel. Eine Märchenprinzessin war sich bei all dem Gesänge schon unsicher, ob sie nicht doch bei der Musiksendung "Immer wieder Sonntags" sei.
Wieder vor der Bühne runter, freute sich Rotkäppchen: Das Werbebanner vom Eingang hing auch im Hintergrund an der Bühne. Wie schön, dachte sie sich, so könne man sie auch noch von Weitem gut sehen und so etwas ist nun einmal auch für sie immer eine gute Werbung. Noch während sich Rotkäppchen darüber freute, schob der Puppenspieler sein großes Puppentheater auf die Bühne, direkt vor das Banner, auf dem weiterhin alle Märchenfiguren zu sehen waren, außer Rotkäppchen. Und so blieb das Puppentheater stehen und verdeckte das 10 Jahre alte Bild, bis am Ende der Feierlichkeiten das Theater, aber auch das Werbebanner weggeräumt wurden.
Doch Rotkäppchen hatte keine Zeit sich weiter darüber Gedanken zu machen. Sie musste nun einen guten Platz für ihren Stand finden. Und so hieß auf dem Schotterweg für das Büchermobil: ziehen, parken, gerade stehen. Kaum war der Standplatz gesichert, kamen einige Besucher an ihren Stand, Märchenfiguren und Sagenfiguren, die von ihrem Herkunftsort und ihrer Geschichte erzählten, Tierparkbesucher die wiederum Rotkäppchens Geschichte hören wollten. Natürlich freute sie sich auch über ihre Bekannten und Verwandten an ihrem Stand, denn immer dann konnte sie mal schnell für kleine Rotkäppchen austreten. Und wirklich allein war sie nie, stets an ihrer Seite bzw. an ihrer Hand (außer beim Austreten) war ihr fast echter Waschbär Bolle. Mit ihm schaffte sie es sogar zwei Tage später in die Zeitung, da sie am Stand von einem Redakteur interviewt und fotografiert wurde. That's business.
Am Nachmittag hatte Rotkäppchen dann ihren Auftritt auf der Bühne. Sie las aus ihrem Buch "Operation Grimm" vor und alle großen und kleinen Zuhörer haben toll mitgemacht. Der Tag verging wie im Fluge, schon war es Abend und die Tierparkbahn wartete bereits auf alle Mitwirkende. Mit dem Shuttlebus mit Baron Münchhausen, Prinzessinnen, dem Bürgermeister und Märchenerzählerinnen durch den Tierpark gefahren zu werden, war auch für Rotkäppchen keine alltägliche Situation gewesen.
"Ich glaub mich knutscht ein Elch," dachte sie sich, als sie alle am Ziel angekommen waren. Zur Feier des Tages wurde in die Elchlodge mit Grillbuffet eingeladen. Doch etwas war anders, alle Figuren waren nun in zivil erschienen, alle Figuren? Nein, Rotkäppchen war noch wie gehabt mit Umhang unterwegs. War sie nun allein mit ihrem Kostüm, abgesehen von dem moderierenden Ritter, der wahrscheinlich niemals seine Robe ablegte? Dahinten zwischen den Leuten, die der Zauber mit dem Ablegen des Kostüms etwas verlassen hatte, sah Rotkäppchen zwei Krönchen aufblitzen. Oh wie schön! Die Kirschkönigin mit ihrer Kirschprinzessin war noch im feinsten Gewandt und so gesellte sich Rotkäppchen zu ihnen. Es wurde ein wunderschöner Abend mit gutem Essen und passendem Unterhaltungsprogramm. So hieß es in einem vorgetragen Märchen "Riki-riki-tok, riki-riki-tok - ich geh spazieren mit meinem Stock." Dieser rhythmischer Satz sollte noch lange in Erinnerung bleiben.
Auch am Tisch schien Rotkäppchen in bester Gesellschaft zu sein mit dem Geschäftsführer der Deutschen Märchenstraße, dem Bürgermeister, dem Vorsitzenden des Fördervereins und mehreren Prinzessinnen. Und so wurde die Shuttlefahrt zurück auch royal mit all den netten Prinzessinnen nebst Kirschkönigin. Rotkäppchen dachte auf der Fahrt nach Hause darüber nach, wie schön es sei, dass es immer wieder junge Menschen gibt, die ehrenamtlich für eine Zeit die Rolle einer Märchen- oder Sagenfigur übernehmen, um ihre Stadt auf solchen Festlichkeiten zu vertreten.
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Der Morgen danach: Erneut machte sich Rotkäppchen voller Vorfreude auf den Weg. Wieder war der Pfad hoch zum Platz nicht nur 15 Minuten lang, aber nun fühlte es sich zumindest schneller an. Rotkäppchen motivierte sich mit den Worten von gestern Abend: "Riki-riki-tok, riki-riki-tok - ich geh spazieren mit meinem Stock." Dennoch: Rotkäppchen tat von dem langen gestrigen Tag jeder Knochen weh, zu lange gestanden und zu wenig geschlafen, so etwas rächt sich umgehend. "Papperlapapp," schimpfte Rotkäppchen mit sich selbst. "Dorothea Viehmann wird dieses Jahr 80 Jahre alt und die böse Königin von Schneewittchen ist es bereits. Also schäm dich, hör auf zu jammern und bewahre Haltung!"
Ein ihr bekanntes Gepiepe holte sie zurück aus ihren Gedanken. Diese Töne hatte sie schon öfters gehört, da war sie sich sicher. Doch sogleich wurde wie bereits am Tag zuvor zur Aufstellung gerufen, alle sollten wieder auf die Bühne. Heute wurden sie nicht von dem Trommler begleitet, sondern von einem Flötenspieler. Sofort wurde Rotkäppchen klar, woher sie die Töne kannte. Zur Bühne begleitete sie der Rattenfänger von Hameln. Herrlich, wie der Rattenfänger von einem Briten verkörpert wird, der mit seinem "very-british"-Slang die Sage höchst international erscheinen lässt.
Wie gehabt stellten sich alle auf der Bühne dem Publikum vor. Als die mittelalterlichen Frauen sich vorstellten und erklärten, dass sie auch hier wären, um ihre Jungfern im Wald zu beschützen, sagte der Dornröschenprinz hinter vorgehaltener Hand, dass sie sich keine Sorgen um die Jungfern machen sollten, schließlich würde in diesem Waldabschnitt nur geknutscht werden. Und wenn sich einer mit dem Knutschen auskenne, dann mit Sicherheit der Prinz, der das Dornröschen damals nach über 100 Jahren wachküsste.
Anschließend wurden alle Darsteller zum Fotoshooting gebeten. Die Kulisse war märchenhaft schön gewählt: Eine Waldlichtung mit Feldweg, im Hintergrund erstreckte sich das Dornröschenschloss empor. Es wurde geknipst und gelacht und sich Anweisungen zugerufen und wieder gelacht und geknipst. Da es bereits der zweite Tag des Märchenfestes war, kannte man sich mittlerweile etwas. Rotkäppchen fiel von Anfang an Rapunzel auf, die sowohl auf der Bühne, als auch als Walkact einen sehr professionellen Eindruck machte. So fragte das Rotkäppchen das Rapunzel in der Hoffnung nicht missverstanden zu werden und nicht zu aufdringlich zu klingen, ob sie eine Professionelle sei. Laut ausgesprochen klang die Frage dann doch etwas anrüchig, aber Rapunzel antwortet umgehend freudig mit einem Ja. Ja, sie sei hauptberuflich Schauspielerin und Musicaldarstellerin. Professionelle erkennt ein Rotkäppchen eben sofort.
Höchst unprofessionell allerdings hingegen war Rotkäppchens Abgang bei ihrer zweiten Lesung am Mittag. Nach der Lesung, bei der erneut das junge Publikum sehr gut mitmachte, sollten alle kleinen Zuhörer vor die Bühne kommen, um am Ende einen Mitmach-Stempel auf die Hand zu bekommen. Rotkäppchen wollte wie an dem Tag zuvor lässig von der Bühne hüpfen. Aber irgendwie blieb sie mit dem Fuß in ihrem Kleid hängen, konnte sich nicht mehr abfangen und fiel sitzend kopfüber von der Bühne. Ungefähr so elegant wie ein fallender Amboss mit einem roten Umhang. Schön mit den Knien auf dem Schotter abgebremst. Über sich hörte sie die Kinder rufen: "Oh nein Rotkäppchen, ist dir was passier? Hast du dir wehgetan?" Zähneknirschend sprang Rotkäppchen schnell wieder auf und rief mit unglaubwürdigen verzerrten Gesichtsausdruck den Kindern zu: "Hat gar nicht wehgetan! Und jetzt bekommt ihr alle einen Stempel." Ach ja, am Schönsten ist es, wenn der Schmerz wieder nachlässt. Oder, wie der Ritter es heute Morgen meinte: Es tut erst weh, wenn das Adrenalin nach lässt.
Doch die beste Medizin ließ nicht lange auf sich warten. Rotkäppchen und Bolle tanzten und sangen wie bereits am Tag zuvor freudig zu "Herr Müller und seine Gitarre". Ein bisschen Rock im Park tut jedem gut. Und dann gab's nach dem Konzert noch ein Selfie mit dem regionalen Kinderrockstar. Mehr ging einfach nicht.
Mit einem Mal war es später Nachmittag geworden und die Märchen- und Sagenfiguren begannen allmählich ihre Kronen, Gewänder und anderes Hab und Gut zu verstauen. Noch ein letztes Mal durften alle in die Holzschatulle mit den Glückskeksen (die, die nicht nur einen Glückssatz, sondern fast ein ganzes Kapitel an positiven Sätzen in sich bargen und die überraschend gut nach Vanille schmeckten) greifen. Es wurde sich geherzt, umarmt und verabschiedet. Wie die Spinnfäden von Dornröschens Spule wurde final ein Netzwerk von Darstellern gesponnen. So hatte Rotkäppchen am Ende der beiden Tage in ihrem Handy neue Nummern stehen, die u. a. mit Dorothea Viehmann und Rapunzel tituliert waren.
Erschöpft, aber glücklich ließ Rotkäppchen das Wochenende Revue passieren. Wie wohl all die anderen Mitwirkenden, die nach diesem Wochenende in ihrem Zuhause wieder angekommen waren, legte auch Rotkäppchen ihr Kleid und ihren Umhang ab. Das offizielle Zeichen, die Rolle zu verlassen und den Feierabend einzuläuten. Doch sie war sich nicht sicher, ob auch der Ritter seine Robe ablegen würde, zumindest nicht komplett. Wahrscheinlich lag er gerade im Kettenhemd vorm heimischen Kamin und polierte seine Stiefel. In diesem Zusammenhang fragte sich Rotkäppchen, ob sie an diesen beiden Tagen als Rotkäppchen verkleidet war, oder ob es andersherum war und sie immer dann, wenn sie nicht Rotkäppchen war, sich verkleidete.
Sie dachte viel über all die schönen Momente nach und fragte sich wie viele Eindrücke wohl erst all die großen und kleinen Kinder hatten, die mit großen Augen an den märchenhaften Trubel teilnahmen? Wir haben großes Glück, dass die Grimms Märchens bei uns zu Hause sind, dachte sie weiter. Unsere Märchen und Sagen wären z. B. in Amerika mit Sicherheit schon zum Kommerz-Kitsch degradiert worden. Hier zwischen Eichenwäldern, mittelalterlichen Burgen und Wildtieren konnten sich alle Märchenfiguren und Sagenfiguren frei und individuell präsentieren. Vor allem einzigartig, denn nicht immer steckt im gleichen Kostüm auch die gleiche Privatperson. Und so werden alle Märchen-und Sagencharaktere einzigartig präsentiert.
Die Organisation des Festes war reibungslos verlaufen. Schon bei den Vorbereitungen wurde schnell deutlich, wie viel Mühe und Zeit investiert wurde. Sogar eine der Hauptverantwortlichen wurde eigens für das Fest aus dem Ruhestand noch einmal zurück geholt. Alle waren mit ihrem ganzen Herzblut dabei.
Ein wahrhaft märchenhaftes und sagenhaftes Wochenende ging zu Ende, mit einer so herzlichen und freundschaftlichen Stimmung, als wären alle Märchenfiguren gemeinsam auf Klassenfahrt gewesen. Rotkäppchen war erschöpft, aber glücklich und dankbar ein Teil von diesem Ganzen gewesen sein zu dürfen. Sie ging an den Korb, der für die Großmutter gedacht war, schüttete sich etwas von dem Wein ein und lächelte zufrieden.
















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