Grimm goes Grimm: "Das sind nicht 30 Zentimeter" oder : "Lesung international"
- Conny Heinz

- 23. Aug.
- 4 Min. Lesezeit

Nicht mehr als maximal 30 Zentimeter sollte ein Auto vom Bordstein entfernt parken. Doch: Waren das tatsächlich 30 Zentimeter?
Wenn etwas nicht an der richtigen Stelle stand, so konnte Rotkäppchens Großmutter mit nur zwei Handgriffen alles ins rechte Lot rücken. Das Bett, das dicht an der Wand stehen sollte oder der Tisch, der genau mittig im Zimmer positioniert sein sollte: Für die Großmutter war das kein Problem. „Großmutter, was hast du für große Hände?“ – „Damit ich dein geparktes Auto standesgemäß an den Bordstein ziehen kann.“ Doch leider war Rotkäppchen heute allein unterwegs und hätte die Handgriffe der Großmutter dringend benötigt.
„Ne, so etwas habe ich noch nie gesehen. Seit 30 Jahren fahre ich Auto – aber so etwas habe ich noch nie gesehen!“ Eine offensichtlich überreizte schrille Stimme holte Rotkäppchen augenblicklich aus ihren Gedanken zurück. Doch woher kam diese Stimme? Rotkäppchen schaute nach links und sie schaute nach rechts, sie drehte sich um, sah nach hinten und sah wieder nach vorn, doch die Stimme war zunächst nicht zu lokalisieren. „Unmöglich“, schrillte es weiter…von oben. Eine Frau, ca. „mittleren Alters“ (was logisch erscheint, wenn sie nach eigenen Angaben seit „über 30 Jahren“ Auto fährt), zupfte ruppig ihre Wäsche vom Wäscheständer auf ihrem Balkon. Es war einer dieser Balkone, die, wenn sie nur einige Zentimeter noch niedriger über der Rasennaht angebaut gewesen wären, als Terrasse hätten tituliert werden können. Rotkäppchen, mit stress-geschwitzten Umhang, atmete tief durch, schluckte alle ad hoc -Wörter herunter und fragte nach Freundlichkeit klingend bemüht: „Ach, Sie wollen mir helfen?“
Dabei war Rotkäppchens Umhang allein schon von der Hinfahrt vom Stress-Schweiß getränkt. Eine Vollsperrung auf der Bundesstraße ließ Rotkäppchen großzügig übers Land querfeldein fahren, eine der Hauptadern Kassels war teilgesperrt, ein Radrennen und eine Großveranstaltung in der Unterstadt mit 18.000 Zuschauern und mehrere Hochzeiten nahe des Ziels machten die Fahrt und die Suche nach einem der sowieso schon viel zu knapp bemessenen Parkplätzen nicht einfacher.
Und dann, nach solch einer Odyssee, fand sie endlich den wohl letzten öffentlichen Parkplatz vor Ort und wurde umgehend unbekannterweise bepöbelt. Alles in Summe: überhaupt nicht märchenhaft. Unter den zusammengekniffenen Augen der schrillen Stimme verließ Rotkäppchen mutig ihr Auto – und machte sich auf den Weg. Ab dem Moment, in dem Rotkäppchen den Blickkontakt zu ihrem Auto verlor, demnach die gesamte Veranstaltung über, schwirrte ihr nur ein einziger Gedanke durch den Kopf: Steht das Auto – wenn auch zugegeben nicht höchstoptimal – noch dort vor Ort?
Mittlerweile wurde es knapp mit Rotkäppchens Zeitmanagement, doch endlich erreichte sie im Kostüm mit Koffer und Tasche zu Fuß die Grimmwelt. Auf der Rückseite des imposanten Museumbaus befanden sich die großen steinernen Außenstufen, auf denen die Lesungen bereits in einigen Minuten stattfinden sollten. Jedoch war Rotkäppchen nicht die einzige, die die Location mit dem Ausblick über Kassel atemberaubend fand. Eine Fotografin war offensichtlich der gleichen Meinung und fotografierte ein junges strahlendes Brautpaar in vielen verschiedenen Posen. „Liebe kann warten, und ich kann für die Liebe warten“, dachte sich Rotkäppchen und wartete geduldig, bis das Liebesshooting beendet war. Sie vergewisserte sich noch, ob es tatsächlich eine Hochzeit war und nicht doch nur ein Shooting für ein Mode-Blog, und gratulierte dann den frisch Vermählten.
Dann endlich ging es los. Showtime, und das vor solch einem exklusiven Publikum. Die „Societas Ethica“ – die europäische Forschungsgesellschaft für Ethik – war für eine Tagung vom 21.-24.8.2025 zu Gast in der Evangelischen Akademie Hofgeismar. Auf dem Tagesprogramm stand: „Excursion to Kassel – In the footsteps oft he Grimm brothers“ und Operation Grimm durfte mit zwei Lesungen auf Englisch aus dem Buch „Operation Grimm- Once upon a time“ ein Teil davon sein. Laut Veranstalter kam das Publikum von „überall her“, vertreten waren u. a. Besucher und Besucherinnen aus den Beneluxländern, Skandinavien und auch Großbritannien. Rotkäppchen hoffte, dass ihr verstaubtes Schulenglisch bei all den Gästen, deren Muttersprache auch nicht Englisch war, nicht so auffallen würde… und dann saß in der ersten Reihe ein Engländer. Vor Beginn der Lesung entschuldigte sich Rotkäppchen mit den Worten „My english is underground“. Noch belächelten dies alle, aber bei manchen Worten wurde es holprig. Die „Drawfs“ hingen ihr stets im Kehlkopf fest, mit einem „Zwerg“ wäre ihr das nie passiert. International übergreifend und auf jeder Sprache gleich war das Wolfsgeheul aller Zuhörer und Zuhörerinnen. Laut wie ein ganzes Rudel wurde mehrfach geheult, was wiederum alle Anzugträger und Anzugträgerinnen irritierte, die während der Lesung im Grimmgebäude an der Panoramaglasfront ein Meeting hatten. Nach der Lesung nickte der Engländer lächelnd und fasste kurz zusammen: „Not bad.“ Als Rotkäppchen gerade ihre Lese-Utensilien zusammenpacken wollte, fiel ihr das Banner in die Hand, welches sie bei dieser Veranstaltung nirgendwo anbringen konnte. Kurzerhand drückte sie es der Zuhörgruppe in die Arme und so entstand spontan ein schönes Erinnerungsfoto von diesem besonderen Nachmittag.
Mit einem mulmigen Gefühl im Magen machte sich Rotkäppchen zurück zu ihrem Wagen. Seit der zweiten Lesung kreiste ein Helikopter über das Gelände und sie hoffte, dass dies nur etwas mit dem anliegenden Krankenhaus und nicht mit einer möglichen polizeilichen Großsuche nach Nicht-30-Zentimeter-Parkern war. Und dann: Aufatmen, Entwarnung. Das Auto war noch da, auch kein Anzeichen von Knöllchen oder Selbstjustiz der schrillen Stimme waren auf dem ersten Blick zu erkennen. Lediglich aus zeitlichen Gründen konnte Rotkäppchen ihren Impuls (an der Tür bei der schrillen Stimme klingeln und noch einmal nachfragen, ob sie zu ihren 30 Jahren Fahrerfahrungen auch einen Führerschein habe) nicht mehr nachgehen. Sie musste gleich zu einer nächsten Lesung. Doch nun hieß es erst einmal: „Excursion to Kassel“: check!
Seitdem hat Rotkäppchen in ihrem Auto immer ein 30-Zentimeter-Bastel-Lineal dabei. Bei der nächsten Lesung mit Parkplatzknappheit wird die Großmutter mit den großen Händen sicherheitshalber mitkommen. Nur zwei Fragen blieben an dem Nachmittag offen: 1. Empfängt die schrille Stimme jeden Parkenden so freundlich? Und 2. Waren es nun wirklich mehr als 30 Zentimeter?
Wie auch immer. Rotkäppchen ging an den Korb der Großmutter, schenkte sich ein Glas Wein ein…und lächelte zufrieden.






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